Standardsoftware – wehe, wenn sie aushärtet

24. März 2016 - Ralf Hildebrandt

Heute ist das Thema „Standardsoftware“.

Im Gespräch kommt das nicht sofort als solches auf den Tisch. Öfter versteckt es sich hinter dem Wunsch nach Verbesserung der Kollaboration, der Kommunikation oder – komplett anders – hinter dem Wunsch, das Chaos endlich einmal aufzuräumen; den Laden im Griff haben zu wollen. 

Wenn es dumm läuft, ist man vor einer ordentlichen Problembeschreibung (5 x nach dem „Warum“ fragen; Taiichi Ohno) aus Versehen vom Symptom Richtung Lösung gehüpft. Das ist verständlich – man hat ja keine Zeit. Man findet sich also mit einem beratenden Softwareanbieter im Gespräch. Das Thema: flexible Lösungen auf Basis von Standardsoftware. Kann es das geben? 

Die erste Standardsoftware war R3 aus Walldorf. Allgemeiner Sprachgebrauch war damals, dass R3 zwar Standardsoftware ist. Das hieß, wenn du unsere Software benutzen willst, musst du nicht programmieren. Aber es gibt so viele Stellschrauben an der Software, dass man sie ganz flexibel – das wurde als Wort benutzt – in jede nur erdenkliche Situation einbauen und anpassen kann. Egal was im eigenen Laden los ist. Kein Problem – wir passen das an.

Das war (ist) also eine Software, die tatsächlich an jede Situation, die man aktuell in einem Unternehmen vorfindet, anpassbar ist. Aber dann eben auch angepasst ist. Und das, was da angepasst worden ist, gnadenlos festhält. Sie ist also im wirklichen Sinne nicht flexibel. Sie ist anpassbar. Wenn die Anpassung einmal vollzogen ist, ist sie starr.

Solche konfigurierbare Standardsoftware wirkt wie flüssiger Beton. Man kann sie überall einfüllen. Solange man sich beim Ausgießen bewegt, stört sie nicht. Selbst wenn der Beton aushärtet, stört er nicht. Denn dort, wo Bewegung stattfand, wurde der Beton beim Aushärten verdrängt. Dort entstanden Hohlräume, die die bisherigen Bewegungen weiterhin erlauben. Soweit so gut. 

Dass der Beton ausgehärtet ist, merkt man erst, wenn man die Bewegung verändern will. Und zwar auf eine innovative, vorher nicht bekannte Art und Weise. Dann merkt man plötzlich, dass Anpassung an Überraschungen (=Dynamik) nicht möglich ist. Außer, man startet ein neues Softwareprojekt. Man macht das, was man vorher auch gemacht hat: man passt die Software jetzt an die neue, gegebene Situation an. Jeder weiß: das ist ein enormer Aufwand, der kostet sehr viel Geld und die notwendigen Veränderungen folgen heute bei hoher Dynamik so schnell aufeinander, dass die Zeit nicht reichen würde, solch ein Softwareprojekt durchzuführen.

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Entweder man unterwirft sich der Software und passt nicht an – das ist auch gefährlich – oder man schmeißt sie ´raus. Etwas, was man nur alle zwei Jahre anpassen kann, ist heute viel zu starr.

Heute wird eine Technik benötigt, die gar nicht angepasst werden muss. Sogenannte Werkzeuge, die die Technik nicht mit den Arbeitsabläufen verbindet, sondern davon trennt. Wenn man sie getrennt lässt, kann man die Technik auswechseln, ohne die Arbeitsprozesse anzufassen. Ein primitives Beispiel sind Textsysteme, mit welchen Rechnungen, Briefe, Berichte usw. geschrieben werden. Das sind Systeme, die können sich in das, was da hergestellt wird, nicht einmischen. Sie können mir nicht vorschreiben, was ich damit schreibe oder wann ich das schreibe. Egal ob es ein Liebesbrief ist (vielleicht besser mit dem Federhalter), ein Erpresserbrief oder eine Rechnung. Deshalb kann man ein Textverarbeitungssystem durch ein neueres auswechseln, ohne irgendwelche Arbeitsprozesse zu beeinträchtigen. Die Arbeit wird damit vielleicht (hoffentlich) leichter, die Farben sind schöner und man bekommt weniger Kopfschmerzen. Aber Rechnungen schreiben ist immer noch der gleiche Vorgang wie vorher.

Im Übrigen haben wir schon dutzendmal zu hören bekommen (wenn man sich irgendwann gut kennt), dass der ganze Laden eigentlich auf Basis eines Excel-Sheets läuft. Obwohl man natürlich auch die teure Standardsoftware nutzt. Man schämt sich dann ein wenig dafür. Vielleicht ist das aber hochintelligent, weil man an der lebendigen Front des Geschäfts genau solche einfachen Lösungen braucht – die Lernumgebung hoher Dynamik hat sie schließlich erzeugt. Das „hemdsärmelige Tool“ ist die dynamikrobuste Zukunft, die einem selbst direkt vor der Nase liegt (und die man als solche nicht erkennt – man schämt sich schließlich dafür). 

Wenn sich aber konfigurierte Standardsoftware in Bereiche verirrt hat, wo die Dynamik hoch ist und man plötzlich merkt, dass dieser ausgehärtete Beton daran hindert, notwendige Reaktionen auszuführen, muss dieser Beton wieder hinaus. Egal, was es gekostet hat. Bloß nicht mit Pseudo-Projekten das Investment rechtfertigen wollen! Nach dem Motto „jetzt ist es eben da – geben wir eine Belohnung dafür, wenn es jemand ordentlich benutzt.“ Das ist eine typische Reaktion, weil man eben erst nach dem Aushärten bemerkt, dass man sich nicht mehr bewegen kann. Und der Aufwand, Software herauszuoperieren ist wesentlich höher, als sie hineinzukonfigurieren. Deshalb wird das bis zum Gehtnichtmehr hinausgeschoben. Eine Blamage für den, der sich das eingehandelt hat. Aber irgendwann findet es statt.

Diesen hohen Aufwand nennen wir Softwareentsorgung. Das heißt das Abscannen der Vorgänge in einem Unternehmen und das Suchen nach Stellen, wo die Software stört. Wo sie die flexible Anpassung an hohe Dynamik verhindert. Dort muss sie wieder ´raus – mit welchem Aufwand auch immer. 

Als Zündfunke:

Bis nächste Woche!

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