Überbordendes Talent

19. April 2018 - Ralf Hildebrandt

Werte Leserinnen und Leser. 

Hat man Ihnen schon einmal „Talent“ bescheinigt? Wahrscheinlich. Sie haben bei Geburt eine besondere Eigenschaft mit auf den Weg bekommen, die Sie nicht durch Ausbildung erworben haben. Die klebt an Ihnen. Da sind Sie gut. Der Volksmund versteht unter Talent etwas Angewachsenes. Untrennbar mit Ihnen verbunden: 

  • Talent ist zunächst einmal etwas Ereignisartiges
  • Talent ist eine Entdeckung, die man machen kann, wenn man sich einem anregenden „Problem“ aussetzt bzw. ausgesetzt sieht
  • Ob sich diese Entdeckung jemals wiederholt, kann man vorher nicht wissen – es kann eine einmalige Sache bleiben
  • Ein anderer Begriff für Talent ist Begabung

Talent beginnt immer mit einem einmaligen Ereignis. Irgendetwas passiert und es stellt sich heraus, dass Sie derjenige sind, der es in Angriff  genommen hat. Das muss nicht angenehm gewesen sein. Sie haben es eben gemacht. Sonst war keiner da.

Ziehen wir einmal ein Beispiel an den Haaren herbei.

Sie befinden sich auf einer Kreuzfahrt und genießen gerade das All-Inclusive-Angebot. Da tut es einen Schlag aufgrund eines Navigationsfehlers Ihres enamoranten italienischen Kapitäns. Alsbald finden Sie sich in einem Rettungsboot.

Von der Besatzung hat es niemand in Ihr Boot geschafft – die haben lange vor Ihnen das sinkende Schiff verlassen. Jetzt sind Sie in einer tollen Situation, um (Ihr) Führungstalent zu entdecken! Was passiert nun? Sie haben es gerade irgendwie so hinbekommen, den halb verrosteten Mechanismus gängig zu machen und die Schaluppe mit großem Getöse zu Wasser zu lassen. Der erste Schreck ist überwunden und man schaut sich um. 12 bis 15 All-Inclusive-Jünger haben es mit Ihnen ins Boot geschafft. Was geschieht als Nächstes? Das ist sehr konkret. Vielleicht verliert jemand die Nerven und fängt zu schreien an. Vielleicht ist das Gegenteil der Fall – keiner sagt etwas. Schockzustand. Oder es geschieht etwas völlig anderes. 

In jedem Fall bildet sich hinter dem Rücken des Häufleins etwas, was für den Fortgang wesentlich ist. Wir nennen das ein „Sozialsystem“ – vielleicht entdecken Sie, dass auf einmal alle zu Ihnen schauen. Dabei kennen Sie die Herrschaften von der Innenkabinenfraktion doch gar nicht! Noch nie gesehen. Aber nun guckt Sie ein tätowierter Klotz von Mann mit weinerlichen Augen an und fragt:“Was machen wir denn jetzt“?

Das ist ein Beispiel dafür, wie man Führungstalent an sich entdecken kann. Sie konnten in dieser bestimmten Situation entdecken, dass Sie auf einmal diejenige (derjenige) waren, auf die (den) jeder geschaut hat (oder Sie haben es an jemand anderem entdeckt). Und so kommt es dazu, dass Sie irgendetwas tun. Damit es weitergeht. Die anderen verlassen sich auf Sie, ohne dass Sie das bewusst herbeigeführt hätten. Und das, obwohl Sie erst vor wenigen Wochen mit Pauken und Trompeten durch das Assessment Center gefallen sind. Mangelnde Führungsqualität!

Sich in einem Rettungsboot wiederzufinden, ist ein extremes Beispiel. Aber so lässt es sich vielleicht besser merken. Talent „beginnt“ immer mit einem Ereignis. Wenn Sie öfter mit anderen über Bord gehen, werden Sie auf Basis des Ihnen dann schon etwas vertrauteren Führungstalentes einige Sicherheit erlangen. Bis Sie sich schließlich irgendwann (mit den Händen in die Hüften gestemmt) verkünden hören, dass alle erst einmal die Ruhe bewahren mögen. Wenn sich Situationen perpetuieren, gibt es Gelegenheit zu üben. Dann kommt man in die Nähe von dem, was der Volksmund mit Talent beschreibt. Der Übergang ist fließend. 

Sie meinen, Sie sind gar kein Kreuzfahrer? Das macht nichts. Wer weiß schon, was Sie an sich im Laufe der Zeit noch entdecken können. Wenn Sie unter Talent zunächst einmal auch ein dazu passendes Ereignis verstehen, sind Sie noch lange nicht mit sich fertig. Oder den anderen. 

Bis übernächste Woche!

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