Ihre ersten 100 Tage

25. Februar 2016 - Ralf Hildebrandt

Die neue Vertriebsleiterin kommt aus einem Unternehmen der gleichen Branche. Sie war dort ein As. Aber irgendwie wurde es Zeit. Ein Jahr später fand man sich in anderem Umfeld wieder. Wie es eben so passiert. 

Der Vorstand war beeindruckt von ihrer Vorstellung und man hat sich bestens verstanden. In ein paar Wochen geht es los. Wie bereitet man sich am besten auf die ersten 100 Tage vor? Man weiß, man wird „liefern“ müssen. Aber was? Man kann ja nicht einfach so weitermachen. Allein schon, weil man anders ist. Aber was wirkt? Glücklicherweise hat man sich nicht auf ein Maßnahmenpaket geeinigt, um den mit der Neuen verbundenen Hoffnungen (die anderswo eigentlich die Alte war) Ausdruck zu verleihen. 

Nein – man hat das richtige Gefühl, dass es erst einmal besser ist, sich zu beschnüffeln. Aber dann? Erwartet man von ihr doch klammheimlich ein Programm für die Modernisierung der „Sales Force“?

Sie fragt sich selbst die richtigen Fragen. Wie nähert man sich einem Unternehmen? Einem solchen Sozialsystem? Wie lernt man so ein „Ding“ kennen?

iStock_000030276196_Medium

Eigentlich weiß doch jeder, dass man aus dem Organigramm gar nichts herauslesen kann. Außer, wer wem den Urlaubsantrag abgibt. Aber wo dann hinschauen? Woher weiß man, was wichtig ist? Woher wissen, was tabu ist? Man wird ja kaum danach fragen können – deshalb sind es ja Tabus. Wenn man aber durch Fragen gar nichts erfährt (außer Fachliches) – wie lugt man dann hinter den Vorhang?

Die Neue zeigt Fingerspitzengefühl. Sie wundert sich selbst ein wenig über ihre Gelassenheit. Kein schlechtes Zeichen!
Und: sie tritt nicht nach 6 Wochen entnervt in die Falle: „Das haben wir bei der Schlucker AG immer so gemacht…“.
Da hätten alle nur drauf gewartet. Das ist zwar verständlich, dass einem so etwas herausrutscht. Schließlich verklärt sich alles mit der Zeit ins Positive. Eben war man noch froh, dass man da ´raus war und jetzt scheint es das Paradies auf Erden gewesen zu sein. Das Hirn macht mit einem doch, was es will! Aber sie ist sich dessen bewusst. Passiert ihr nicht. Gut. 

Wie lernt lernt man ein Unternehmen kennen?

Ihre Idee ist richtig, dass man durch Fragen kaum etwas erfahren kann. Stattdessen muss man sich durch „dumme“ Fragen das Unternehmen erklären lassen. Solche recht harmlosen Fragen sind eigentlich eher uninformierte Behauptungen – man könnte schon fast Vorurteil dazu sagen. Man übernimmt das Risiko der Wahrheit und das öffnet Türen der Hilfsbereitschaft – man wird quasi belehrt. Das eigene Bild wird sich sehr ausdifferenzieren. Im ersten Kontakt lernt man nur die Oberfläche kennen. Was darunter steckt ist meist sehr interessant.

Es lohnt sich immer, die Geschichte eines Unternehmens zu studieren – auch und vor allem im Sinne von Niederlagen! Denn die stehen nicht in den Broschüren. Erst wenn man die Verarbeitung von Niederlagen studiert, lernt man die Kraft einer Kultur kennen. Gab es eine Zeit, als das Schiff so durchgeschüttelt wurde, dass man mit den eingefahrenen Denkweisen gesunken wäre? Nur dann (bzw. zu dieser Zeit) ist wirklich Neues entstanden. Wie mit Misserfolg umgegangen wird, gibt Aufschluss auf Innovationsfähigkeit. Sicher muss man erklären, warum man ausgerechnet daran interessiert ist. Man erinnert sich schließlich lieber der eigenen Erfolge und Weihnachtsfeiern (ok, nicht immer). Schmerzvolles wird verdrängt – siehe oben.

Und die Neue hat Glück. Sie bringt ein Talent mit: sie kann Vertrauensverhältnisse erschnüffeln, ausbauen und nutzen. Ohne auszunutzen. Man kann sie nur ermutigen, sich hier weiter auf ihr Gefühl zu verlassen, um belastbare Verhältnisse zu schaffen.

Sie hat sich ein Ziel gesetzt, um ihren Wirkungsgrad nach 100 Tagen unter Beweis zu stellen: sie würde dann gerne ohne großes Drumherum die Dinge (Probleme) beim Namen nennen können.
Das wäre soweit schon ok. Vielleicht ein Tipp an dieser Stelle: lieber nicht mit einer Idee hineingehen – die Wahrscheinlichkeit, dass die passt ist gering – sie kommt schließlich aus einer anderen Kultur. 

Besser ist: bei was und wie kann ich wem helfen? Wo kann ich nutzen? Welches Hindernis kann ich aus dem Weg räumen? Damit man die neue Kultur helfend kennenlernen kann! Das schafft Verbündete. Sich nützlich machen und sich dabei Ansehen schaffen – man wird der Neuen dann ganz sicher das eigene Unternehmen „beibringen“. Das kann man gar nicht verhindern. Und alle können erleben, dass die Neue einem hilft, wenn man ihr etwas erklärt! Man verbündet sich quasi – freilich ohne es so richtig zu bemerken – um der eigenen (Werte)-Kultur auf die Schliche zu kommen. So kann man etwas über Tabus erfahren, ohne danach zu fragen. Man bekommt heraus, was sich gehört oder wo man vom Immunapparat der Organisation den nassen Waschlappen ins Gesicht bekommt. 

Und was ist mit dem Vorstand? Muss sie sich um den gar nicht kümmern? Nein. Der Vorstand wird schauen, wie die neuen Kollegen wiederum auf die neue Chefin schauen. Ob sich die Gesichter aufhellen oder man noch schnell zum Kunden muss, wenn das Thema aufkommt. Schließlich ist die beste Idee nichts wert, wenn die Kollegen von der Fahne gehen. Deshalb ist das „Beeindrucken eines Vorstandes“ nur ein indirekt zu behandelndes Thema. 

In jedem Fall hilft der Hinweis, dass es keine statische Sache ist, wenn man auf ein anderes Unternehmen trifft. Weder die neue Managerin, noch das Unternehmen ist statisch. Schon die gegenseitige Beobachtung ändert das Verhältnis. Durch die systemtheoretische Brille nennt man das „Kopplung“. 

So löst sich mit der Zeit eine eingefressene Kommunikation auf. Durch Ideen, einen Scherz an der richtigen Stelle, die Faust auf den Tisch usw.. Solch eingefahrene Kommunikation behindert Innovation. Die Neue muss das Risiko eingehen auszusprechen, wie sie die Welt sieht. Bloß nichts spielen! Das ist immer falsch. Sie wird öfter danebengreifen. Aber von einem Manager wird verlangt, dass er nützlich ist – nicht, dass er ohne Schwächen ist. Also nur Mut – man muss sich dem Unternehmen zur Verfügung stellen – mit allen Stärken und Schwächen! So, wie man ist. Und sich bloß nicht für sich selbst schämen wollen. Daraus resultiert meist die ungesunde Haltung der Pflichtanmaßung: „ich muss jetzt… (die Organisation verändern)“.

Und schließlich: wichtig ist, was aus einem Menschen werden kann – nicht, was er heute ist. Und da muss man sich bei einer Managerin wie aus unserem Beispiel keine Sorgen machen. 

Bis nächste Woche!

Creative Commons Lizenzvertrag   Der Inhalt des Posts ist lizenziert CC-BY-NC-ND. Er kann gerne jederzeit unter Namensnennung und Link zu nicht-kommerziellen Zwecken genutzt werden. 
Bildnachweis: Stock photo © eugen_z  30276196.

Neue Blogposts gibt es 2-wöchentlich. Wenn Sie möchten, bestellen Sie die Beiträge hier kostenlos: