Transparenz zu fordern ist naiv
11. Dezember 2015 - Ralf Hildebrandt
Transparenz ist positiv besetzt. Schließlich heißt der Gegenbegriff Intransparenz, also Heimlichkeit. Wenn ich etwas für mich behalte, also heimlich bin, schadet das anderen Menschen. So ist es doch? Und wenn ich als authentische Führungskraft allen alles mitteile, kann ich ja niemandem schaden.
So kann man reden. So wird auch oft geredet. Allerdings ist das eine zu naive Vorstellung von dem, was man Kommunikation nennt. Genauer: unter welchen Bedingungen kommunikative Systeme überhaupt in Gang kommen.
Eine Bedingung ist die Vertraulichkeit. Es gibt große gesellschaftliche Bereiche, die könnte man sich ohne Vertraulichkeit gar nicht vorstellen: Eltern-Kind, Eheleute, Arzt-Patient. Wie sollten die funktionieren, wenn es keine Vertraulichkeit gäbe?
Vertraulichkeit wird benötigt, weil die Interpretation einer Aussage immer davon abhängt, in welchem Kontext sie getroffen wird.
Wenn ich meinem Arzt etwas erzähle und ich erzähle meinem Nachbarn das gleiche, ist die Wirkung sehr verschieden. In einem Fall erzähle ich das meinem Arzt, weil ich gesund werden will. Er muss genau Bescheid wissen. Wenn ich das meinem Nachbarn erzähle, zieht der ganz andere Konsequenzen daraus. Vielleicht auch Konsequenzen, die weder in meinem noch in seinem Sinne sind.
Vertraulichkeit bedeutet immer, etwas nicht zu sagen, wovon ich weiß. Oder etwas wegzulassen, was ich sagen könnte. Menschliche Kommunikation ohne Vertraulichkeit ist gar nicht möglich.
Ein gutes Beispiel ist das Pokerspiel. Wenn man meint, Transparenz ist überall richtig und wichtig, dann möge man in einer Pokerrunde einmal transparent Pokern. Jeder legt seine Karten auf den Tisch, jeder weiß Bescheid, aber ein Pokerspiel ist damit nicht mehr möglich.
Manche Kommunikation, welcher man den vertraulichen Anteil nimmt, hört auf zu funktionieren.
Das Problem ist – wie so oft – die Unterscheidung, die nicht gemacht wird; was in der Kommunikation in einem Projekt muss in der Projektsitzung gesagt werden bzw. was darf nicht gesagt werden. Damit das, was gesagt werden muss, gesagt werden kann.
Wenn ich in einer Projektsitzung Emmas Neigung zum Alkohol thematisiere, dann entsteht eine unheimliche Diskussion für und wider Alkoholismus und ob das für die Emma zutrifft. Aber die Projektarbeit – nehmen wir jetzt dieses Netz oder jenes, diese Datenbank oder jene – kann dann nicht mehr stattfinden.
Transparenz zu fordern ist also mindestens ein schlampiges Ziel.
Noch ein Beispiel – Tarifauseinandersetzung: Die Mitarbeiter sind der Meinung, sie erhalten zu wenig Lohn und fordern eine Lohnerhöhung. Der Unternehmer oder ein Vertreter des Unternehmens erzählt, warum das nicht geht. Das ist meistens ziemlich gelogen.
Jetzt verlangen die Mitarbeiter, er möge gefälligst die Wahrheit sagen – die vorgetragenen Zahlen sind offensichtlich getürkt. Das wäre berechtigt. Sie sagen aber: wir fordern Transparenz – und das ist zu viel. Das ist viel mehr, als der Wunsch nicht belogen zu werden.
Allerdings ist der Grund, warum der Unternehmensvertreter lügt (in seiner Funktion im System), die objektiv gegensätzlichen Interessen. Wenn man in einer solchen Situation Transparenz fordert, könnte er nicht mehr das tun, wofür er bezahlt wird. Nämlich dafür zu sorgen, dass die Löhne im Rahmen bleiben. Und in dieser Funktion kam ihm eben die Idee, dass er besser über solche und nicht jene Zahlen berichtet. Und am besten im Fernsehen.
Wenn die Forderung nach Transparenz nun erfüllt werden würde, würde der ganze Kommunikationsprozess zusammenbrechen. Und die Mitarbeiter, die der Meinung sind, Transparenz würde ihnen nützen, hätten gar nichts davon. Im Gegenteil.
Denn ein Unternehmen ist ein Sozialsystem. Und die Operation eines sozialen Systems ist Kommunikation. Menschen „operieren“ das System nicht – sie machen es auch nicht. Sie gehören zur Umgebung. Jeder weiß aus eigener Erfahrung, wie ein System durchgerüttelt wird, wenn die Kommunikation zusammenbricht (Hinweis: Partnerschaften, Ehen sind auch Sozialsysteme). Ein System ist zäh – ganz zusammenklappen wird es deshalb noch lange nicht.
Man kann also Forderungen wie die nach Transparenz stellen, ohne dass viel passiert. Sie sind nur albern, naiv, aber nicht gefährlich. Immerhin kann man sich emotional entsorgen. Ein „Transparenz“-Projekt (getarnt mit IT) wäre allerdings Verschwendung.
Hier zum Nachhören im Original:
Bis nächste Woche!
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