Eine Frage des Charakters – erster Teil

4. November 2016 - Ralf Hildebrandt

In der Management-Runde im Betriebsrestaurant war man sich nach kurzer Diskussion einig. Mit der Mannschaft von Erik läuft das nicht mehr. Keine Ahnung, was da los ist. Die Zahlen stimmen auch nicht mehr. Führungsschwäche? Möglich. Fehlt frischer Wind? Vielleicht. Aber bis der etwas bewirkt… man hat ja viel versucht – nichts hat gefruchtet. Low Performer. Eine Frage des Charakters. Ja, so ist es wohl. Möchte noch jemand einen Espresso? …

Disappointed white collar workers together in cafeteria

Sie schauen ja ab und an mit viel Interesse durch die systemtheoretische Brille, werte Leser. Das wissen wir von Ihnen. Ziehen wir sie heute doch einmal wieder auf. Was sehen Sie nun? Zunächst einmal sehen Sie im Vordergrund nicht mehr die Manager am Tisch. Sondern die stattfindende Kommunikation – das Gespräch. Sie sehen, wie ein Wort das andere gibt – eine kommunikative Operation folgt der nächsten. Keiner der Anwesenden hat ein Skript für das Gespräch in der Hand. Es läuft einfach – es organisiert sich. Niemand organisiert es. Wie geht das?

Sie rücken die Brille zurecht und schauen noch genauer hin. Jetzt erst sehen Sie, dass aus einer heiß sprudelnden Quelle mitten auf dem Tisch immer wieder Begriffe angeboten werden. Keiner der Manager sieht das. Was da angeboten wird, bestimmt, was gesagt wird. Bestimmt, was gesagt werden darf und was man davon zu halten hat. Das ist ganz offensichtlich. Aber nur für Sie. In jedem Fall sorgen die Begriffe dafür, dass das Gespräch weiterlaufen kann. Denn ab und an, wenn die Unterhaltung stockt, verwendet einer der anwesenden Manager einen solchen Begriff. Und tatsächlich – die Unterhaltung setzt sich fort. Keiner muss sich darüber Gedanken machen, was gerade passt.

In einem ratlosen Moment wird der Gruppe gerade noch rechtzeitig „es mangelt an Charakter“ angeboten („Mindset“ wäre auch noch im Angebot gewesen). Und die Kommunikation stabilisiert sich wieder. Es kommt dabei nicht auf Vernunft an. Niemandem fällt auf, dass die Forderung nach mehr „Charakter“ keine Lösung ist. Oder sogar kompletter Unsinn. Es ist wohl eine übliche Formulierung. Gehört zum Stil des Hauses. Keiner regt sich auf. Es flutscht und plätschert einfach so weiter. Geräusche.

Sie nehmen die Brille wieder ab. Sie haben genug gesehen. Lange hält man das ja nicht aus, wenn man so von außen zuschaut. Sie schütteln den Kopf. Und denken darüber nach, was Sie da eben wohl beobachtet haben? 

Sie haben ein Sozialsystem beobachtet. Sie haben die Vernunft im Unsinn gesehen.

Nennen wir das Sozialsystem „Betriebsrestaurant-Runde“. Zu dessen Umgebung gehören die Manager. Sie könnten den einen oder anderen auch auswechseln. Oder dazusetzen. Es funktioniert weiter. Das haben Sie gesehen. Hauptsache ist wohl, dass sich das Ding fortsetzt. Es scheint keinen Zweck zu geben. Es nudelt einfach weiter. Es geht dem Ding nur ums Überleben. Man kommt argumentativ nirgendwo hin. Aber die Beteiligten stört das nicht. Sie merken es nicht einmal. So läuft das also.

Sie sind ob dieser Erkenntnis erleichtert. Ohne die Brille hätten sie die Quelle nie gesehen. Sie dachten schon, Ihre Kollegen sind völlig durchgeknallt. Wie kann es sonst sein, dass in dieser durchaus intelligenten Runde der „Charakter“ als Ursache mangelnder Leistungsfähigkeit von Eriks Team eine anerkannte Erklärung ist? Unglaublich.

Jetzt ist Ihnen so einiges klar geworden. Sie wollen sich die Runde noch einmal ansehen und ziehen die Brille noch einmal auf. Sie sind verdutzt. Hinten rechts sitzen Sie ja selbst!

Bis nächste Woche!
(wir haben Ihnen hier eine Irritation angeboten. Damit man sich erinnern kann, dass eine Organisation nicht aus Menschen besteht oder von Ihnen gemacht werden kann)

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