Komplexität ist ganz natürlich

25. April 2025 - Ralf Hildebrandt

Werte Leserinnen, liebe Leser,

wenn in Unternehmen über Komplexität gesprochen wird, dann hört sich das oft nach etwas sehr Modernem, nicht selten sogar Bedrohlichem am. Man diskutiert darüber, wie Komplexität in den Griff zu bekommen ist, wie man sich am besten für den Umgang damit wappnet (KI?), oder gar, wie sie zu bekämpfen und niederzuringen, beziehungsweise zu reduzieren wäre. 

Tatsächlich ist Komplexität aber weder modern noch bedrohlich, sondern ganz natürlich, gewissermaßen „bio“, und normal. Komplexität ist eine Eigenschaft komplexer Systeme, was man sich ohne Exkurs in Systemtheorie aber auch so merken kann:

Komplex ist, was lebendig ist,

wobei sich „lebendig“ aufs Leben und nicht nur auf Lebewesen bezieht. Was lebt ist morgen anders als gestern, oder anders:

Komplexes zeichnet sich dadurch aus, dass es überraschen kann.

Ein paar Beispiele: 

  • Ihr eigenes Bewusstsein ist komplex, es überrascht Sie mit Ideen,
  • eine Schmusekatze ist komplex, sie überrascht mit einer Maus oder dem Entzug von Zuneigung,
  • die Kunst ist komplex, sie überrascht mit neuer Musik,
  • der Sport ist komplex, er überrascht mit der Niederlage eines Favoriten,
  • und Weihnachten ist komplex, es überrascht mit Geschenken und manchmal sogar mit einer friedlichen Familie.

Kurzum: Komplexität ist das pralle Leben, überrascht zu werden ist normal, man lebt damit und Vieles lebt davon.

Nur in der Wirtschaft nicht, so scheint es, oder noch nicht. Da bereitet das pralle Leben, beziehungsweise der Umgang mit Komplexität große Probleme. Aber warum? Die Menschen sind schließlich die gleichen, die sich außerhalb ihrer wirtschaftlichen Tätigkeiten nicht nur an der Komplexität von Schmusekatzen und Kunst und Sport erfreuen, sondern auch im Falle unerwarteter größerer und kleinerer Alltagsprobleme jede Menge Ideen produzieren, was man denn nun tun könnte. Warum also fällt der Umgang mit Komplexität vielen Unternehmen so schwer?

Die kurze Antwort lautet – es steckt ihnen und großen Teilen der gesamten Wirtschaft in den Knochen. Ein Jahrhundert lang war man erfolgreich, weil menschliche Komplexität, beziehungsweise ganz selbstverständliche menschliche Eigenschaften, wie zum Beispiel Kreativität, Fantasie und Initiative, im Job nicht besonders gefragt waren – jedenfalls nicht zur Organisation industriell geprägter Wertschöpfung, die der Menschheit einen Produktivitätszuwachs und Wohlstand bescherte, wie man ihn zuvor noch nicht gesehen hatte. Das ebenso verblüffende wie geniale am klassischen Organisationsprinzip war (beziehungsweise ist, wo es noch funktionieren kann), dass gerade dieser weitestgehende Verzicht auf menschliche Fähigkeiten den enormen wirtschaftlichen Erfolg begründete. Erst das Hinauskomplementieren menschlicher Komplexität reduzierte die Komplexität der Massen-fertigung auf ein Niveau, das den damals entstehenden Massen-märkten angemessen war. Was dabei übrig blieb, war, zumindest für das Gros der Industriegesellschaft, eine unnatürliche Lebensweise, die sich erst einmal als natürliche beziehungsweise selbstverständliche Lebensweise etablieren musste. Das ging nicht von heute auf morgen. Dafür war eine kulturelle Leistung notwendig, ohne die der Erfolg nicht möglich gewesen wäre – und der (Erfolg) und die dazugehörige Kultur sind das, was vielen Unternehmen in den Knochen steckt.   

Was heute ansteht ist, diese kulturelle Leistung, und die für natürlich gehaltene unnatürliche Lebensweise (von Disziplin und Gehorsam) wieder ein Stück weit loszuwerden und um etwas „bio“ zu ergänzen, um die eigene Komplexität auf das Niveau der Komplexität moderner Märkte zu steigern. Und das geht eben nicht so, wie es 100 Jahre lang richtig war, sondern nur über die stärkere Nutzung menschlicher Fähigkeiten – ganz natürlich.

Bis übernächste Woche!

 

 

 

 

 

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