Offen miteinander reden

20. September 2016 - Ralf Hildebrandt

„Lassen sie uns ´mal offen miteinander reden“; das ist eine gängige Forderung. Wenn Sie bereits mit einer solchen Forderung konfrontiert worden sind – werte Leser – hat sich in Ihrer Magengrube vielleicht etwas verknotet. Ihr Gefühl ist zwar kein Argument. Aber Ihr Knoten im Magen ist doch ein Hinweis in der richtigen Richtung.

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(Bild: junge Frau- in völliger Offenheit nach Forderung derselben)

Sie ahnen es – man kann gar nicht offen miteinander reden!

Nun klären Sie aber nicht gleich Ihren Liebsten (Ihre Liebste) auf, weil Sie es schon immer wussten und es endlich einmal jemand offen ausspricht. Eins nach dem anderen. Bevor wir klären, warum man nicht offen reden kann – aber das ständig eingefordert oder auch lobend erwähnt wird – ein kurzer Ausflug in die Grundlagen. 

Die Denkgrundlage, die sich heute im Umgang mit Komplexität nützlicher als vieles andere erwiesen hat, ist die sogenannte „funktional orientierte Systemtheorie“. „System“ hat dabei nichts mit einer größeren Struktur von Objekten zu tun. Obwohl man den Begriff genau damit üblicherweise assoziiert (Business System, System Performance, usw.).

Sondern: 

  1. Systeme entstehen, wenn sich Operationen gleichen Typs verketten. Tipp: wenn man den Blick von Dingen oder Personen abwendet und dort hinschaut, was sie verbindet, landet man bei den „Operationen“. Modern könnte man das Vernetzung nennen.
  2. Jede Operation setzt eine vergangene voraus und ermöglicht die nächste. Diese Kette von Operationen unterscheidet sich von einer anderen Kette. Diesen Unterschied nennt man dann „System“ (sind Sie noch da? Ist gleich fertig!).
  3. Die Operation eines sozialen Systems ist Kommunikation. Ein Gespräch ist zum Beispiel so ein Kommunikationstyp (Wirtschaft ist auch ein Typ, Organisation oder Unternehmen sind andere). Jeder Satz, der sich an einen anderen anschließt, gehört zum Gespräch. Alles andere zum drumherum – „Systemumwelt“ genannt. 

Nehmen wir nun an, die Sprechenden sind anwesend wie in einem Meeting, dann ist das so ein Sozialsystem – man nennt es „Kommunikation unter Anwesenden“. Bleibt ein sich anschließender Satz aus, klappt das System zusammen. Schweigen. Oder man hört nur noch Geräusche einer sich verhakenden Kommunikation. Das werden Sie kennen. Wenn jeder Satz zuviel ist. Man ist peinlich berührt. Oder schämt sich fremd. Und dann meint es jemand gut: „lassen sie uns doch offen kommunizieren“. Ja! Jeder nickt. Und gleich im nächsten Moment erinnert man sich, dass das nun bestimmt nicht geschieht. Ganz egal, ob man das will.

Das hängt damit zusammen, dass alle Anwesenden in ihren eigenen Sozialsystemen trainiert sind. So schleppt man zum Beispiel unbemerkt mit sich herum, was man von etwas halten soll, wenn es gesagt wird. Oder ob man einer Aussage einen bestimmten Einfluss zubilligt, weil jemand eine wichtige Funktion inne hat. Oder eine unwichtige. Und so weiter.

Wenn man versucht, miteinander zu reden, bildet sich ein drittes System. Und die o.g. Hinterbühnenelemente nehmen klammheimlich Einfluss auf die Art und Weise der Kommunikation. Dabei ist jeder der Gesprächspartner der Meinung, er rede frei und sage was er wolle. Und wenn er es nicht wolle, dann sage er es auch nicht.

Da hat man dann aber die Rechnung ohne das Sozialsystem gemacht. Keiner der Gesprächspartner hat normalerweise die Erfahrung parat, dass der Einfluss des umgebenden Sozialsystems das eigentlich Entscheidende ist. Dass man also keineswegs sagen kann, was gerade gesagt werden müsste. Oder irgendetwas weglassen kann, was gerade nicht gebraucht wird. 

Es fehlt die Einsicht, dass jeder in seiner Werteumgebung (auch Sozialumgebung oder Kultur genannt) gefangen ist. Man wird von dem, woher man kommt, geführt und geleitet. Ganz unbemerkt. 

Es braucht viel Geschick um mit diesen Beschränkungen, denen man selbst oder auch andere unterliegen, umzugehen. Wenn es mir als Gesprächspartner gelingt, eine Situationen zu schaffen, wo der andere tatsächlich sagen kann, wo ihn der Schuh drückt, dann werden Lösungen möglich, die ohne unsere kleine Übung oben gar nicht möglich sind. 

Und das ist viel, viel mehr als „offene Kommunikation“ zu fordern. 
(wenn Sie das nur einmal durchlesen müssen und es sitzt – Gratulation!)

Bis nächste Woche!

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Bildnachweis: istockphoto Lori Werhane; 44265932

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