Die Doppelspitze

21. März 2024 - Ralf Hildebrandt

Liebe Leserinnen, werte Leser, 

ab und zu findet man ganz oben in einer Hierarchie eine „Doppelspitze“. Die Doppelspitze erzählt von sich, man handle auf Augenhöhe und entscheide gemeinsam. Kann eine solche Konstellation funktionieren? Wer entscheidet, wenn man gemeinsam entscheidet? Beide? Wer ist dieses „beide“? Ein demokratischer Zusammenschluss? Ein Gremium aus zwei Vertretern mit jeweils 50% Stimmanteil und ohne Veto? Schließlich haben ja beide eines, sonst würde ja doch nur eine(r) entscheiden. Oder sind Doppelspitzen, von politischem Kalkül einmal abgesehen, eine Verlegenheitslösung? Weil es zwei Spitzenleuten im täglichen, kollegialen Miteinander vielleicht ein unangenehmes Gefühl bereitet, nur eine(n) an der Spitze zu benennen? Gibt es dort, wo es doppelt spitzt, vielleicht eine irrationale Angst vor etwas ganz Normalem? Nämlich, dass eine Hierarchie immer in einer Spitze zusammenlaufen muss?

Zur Klärung soll die Geschichte von Frieda und Leonie beitragen. Frieda hat Leonie bereits vor 8 Jahren in die Geschäftsführung ihres mittelständischen Unternehmens geholt. Beide haben das unbedingte Gefühl, alles Wichtige gemeinsam zu entscheiden. Werner, ihr für die Anlieferung geeigneter Denkwerkzeuge zuständiger Sparringspartner meint, es gäbe gute Gründe, das zu bezweifeln (siehe oben).

„Na gut“, meint Frieda. „Anfangs vielleicht noch nicht. Aber seit etwa drei, vier Jahren schon. Da machen wir das gemeinsam. Auf jeden Fall.“

Werner: „Sicher. Ihr diskutiert anstehende Entscheidungen miteinander aus. Das ist das, was man `gemeinsam´ macht. Aber irgendwann, wenn ihr lang genug diskutiert habt, wird eine von euch beiden sagen (müssen), wir machen das jetzt so und nicht anders. Und wer euch kennt und eure Diskussionen beobachtet, dessen Gefühl würde dem Verstand überdeutlich zuflüstern, dass das, Stand heute, immer Frieda sein wird. Leonie kann sagen, wir machen das jetzt so und nicht anders, aber nur, weil sie weiß, dass sie mit Frieda einer Meinung ist. Und so glauben beide, sie hätten gemeinsam entschieden.“


  Abbildung: Leonie links, leicht versetzt hinter Frieda.

Leonie: „Ja eben, das sagen wir doch, wir entscheiden gemeinsam!“

„Hm, nein. Vielleicht hilft ein Gedankenexperiment. Nimm einmal an, Frieda, du würdest Leonie alles entscheiden lassen und alle ihre Entscheidungen auch akzeptieren.“

Frieda: „Genau. So ist es.“

„Ja. Dann wärst du aber noch immer an der Spitze. Denn du hast entschieden, dass Leonie entscheidet. Umkehren lässt sich das nicht. Leonie kann nicht entscheiden, ob sie deine Entscheidungen akzeptiert. Da hat sie keine Wahl, das geht nur in einer Richtung.“

Die beiden gucken säuerlich.

„Keine Sorge – eine hierarchische Beziehung, und um nichts anderes geht es hier, ist nichts, was eure gute Stimmung trüben könnte. Dass ihr eine habt, könnt ihr gelassen zur Kenntnis nehmen. Organisationen brauchen Hierarchie, ohne wären sie keine, sondern ein Netz. Und Hierarchie wiederum braucht eine Spitze, und nicht zwei. Eine Hierarchie, die in zwei Spitzen endet ist keine. Den freundlichen Umgang miteinander behindern Hierarchien überhaupt nicht und auch nicht die Qualität eurer Zusammenarbeit, nicht im Geringsten. Das ist nur ein Gefühl und so nützlich Gefühle auch manchmal sind, man kann sich in ihnen auch täuschen.“

Die beiden gucken etwas versöhnlicher.

„Vielleicht hilft es, Hierarchie und Macht voneinander zu unterscheiden. Und wenn Hierarchie (der Begriff) erst einmal von Macht befreit ist und ihr euch Macht als sozialen Konsens bewusst macht, dann könnt ihr erkennen, dass eine Spitze eurem Wir gar nichts passieren kann. Denn Frieda kann Macht nur dann anwenden, wenn Leonie sie auch anerkennt. Wenn sie Macht nur dadurch realisieren könnte, indem sie dir drohen würde, Leonie, dann hättest du doch längst begonnen, dich nach einem anderen beruflichen Umfeld umzusehen. Schon allein das würde Friedas Macht infrage stellen. Erst recht, wenn du dann etwas anderes gefunden hast und die Zeit bis dahin nur noch absitzt.“

Die Situation entspannt sich zusehends.

„Wenn Frieda also eine Entscheidung trifft, von der sie weiß, dass sie das Risiko eingeht, deine Solidarität zu verlieren, würde sie diese Entscheidung zumindest so nicht treffen. Was hätte sie von einer Entscheidung, bei deren Umsetzung du nicht mitziehen würdest? Nichts, sie müsste auf deine Kompetenz verzichten. Auf verfügbare Kompetenz (wo sie gebraucht wird) zu verzichten ist Verschwendung und keine Grundlage konkurrenzfähiger Wertschöpfung.“

Frieda: „Die Qualität meiner Entscheidungen, ist von Leonies Kompetenz abhängig.“

Werner: „Genau. Ihr müsst euch deshalb aber nicht einig sein. Eine Entscheidung kann auch konfliktreich getroffen werden, das gehört dazu. Aber ganz gleich ob man sich einig ist oder nicht, am Ende des Tages muss eure Solidarität bestehen bleiben – weil ihr aufeinander angewiesen seid und die Leistung, die ihr erbringt, nur zusammen möglich ist.“

Frieda und Leonie (gemeinsam): „Danke Werner. Einsame Spitze.“

Bis übernächste Woche!

 

 

 

 

 

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