Wenn Unternehmen verblöden

19. April 2024 - Ralf Hildebrandt

Liebe Leserinnen, werte Leser,

wenn Unternehmen „verblöden“, dann sind damit nicht die Bewusstseinsstrukturen von Mitarbeitern und/oder deren Management gemeint, sondern die Strukturen von Organisationen. Organisationen, auch die moderner Unternehmen, und daran sei hier kurz erinnert, bestehen ausschließlich aus Kommunikation (über Entscheidungen). Und wenn diese Kommunikation in Strukturen operiert, die früher einmal nützlich waren, es heute unter hoher Dynamik aber nicht mehr sind, dann verblöden Unternehmen:

Unternehmen verblöden, wenn Menschen Organisationsstrukturen nutzen, in welchen sich deren Intelligenz nicht mehr unterbringen lässt.

Verblödung droht zum Beispiel, wenn die ungewöhnliche Anfrage von Kunde Harbinger ein Problem bereitet, dessen Bearbeitung „mal eben nebenher“ auf Basis von gesundem Menschenverstand und Kollegialität, nicht mehr zu organisieren ist – eine temporäre Sonderorganisation muss her, ein „Projekt“.

In vielen Unternehmen werden Sonderorganisationen vom Typ Projekt als temporäre Modifizierung der Regelorganisation gedacht und gemanagt. Das heißt, dass man das Projekt im Prinzip so organisiert, wie man auch eine Abteilung organisieren würde, nur eben zeitlich begrenzt. Es werden Ziele gesetzt, Zuständigkeiten (Hierarchien) geklärt und Abläufe (Prozesse) definiert. Wenn der Projektplan steht wird eine geeignete Projektleiterin gesucht (bestimmt), und die wiederum besetzt die Organisationsstruktur mit den im Plan vorgesehenen Ressourcen. Die dafür benötigten Leute bekommt sie von der umgebenden Regelorganisation. Aber natürlich nicht zu 100%, sondern nur zu einem Teil, die geregelte Arbeit muss schließlich auch erledigt werden. Zu welchem Prozentsatz die jeweiligen Abteilungs-, Ressort oder Bereichsleiter ihre Leute zur Verfügung stellen ist Verhandlungssache, eher selten zu 80%, meist für 50% oder 30%, je nachdem, was im Tagesgeschäft gerade möglich ist. Die eine oder andere Ressource gibt´s vielleicht auch gar nicht, ein Unternehmen ist kein Ponyhof. Die Projektleiterin muss sich dann eben etwas einfallen lassen, denn gestartet werden muss das Projekt natürlich trotzdem, Kunde Harbinger wartet nicht ewig.

Solange genug Zeit, Geld und Personal zur Verfügung stehen, funktioniert das Ganze auch. Es gibt genügend Spielraum, um den Mehraufwand für das Doppelmanagement der klassisch erweiterten Organisationsstruktur zu leisten. Wenn aber nicht genügend Zeit, Geld und Personal zur Verfügung steht, wie das heute meistens der Fall ist, dann wird die Struktur mit zwei Vorgesetzten pro Mitarbeiter überlastet. Überlastete Organisation bedeutet, dass es mehr Aufgaben gibt, als bearbeitet werden können. Auf dem Schreibtisch doppelt gemanagter Mitarbeiter stapelt sich auf der einen Seite dann die Arbeit der Regelorganisation und auf der anderen die des Projekts. Weil unter Last nicht alles in der benötigten Zeit erledigt werden kann, muss entschieden werden, was davon wichtiger und weniger wichtig ist. Die Unterscheidung von Wichtigem und weniger Wichtigem wäre eigentlich Sache der beiden Vorgesetzten, die haben fürs ordentliche Unterscheiden aber kaum mehr Zeit, unter Überlastung leidet auch die Kommunikation.

Vor allem, weil Kunde Harbingers Sonderlocke nicht die einzige Überraschung ist, die zur Bearbeitung in eine Struktur temporärer Sonderorganisation zwingt. Da ist es dann auch kein Wunder, dass Mitarbeiter von ihren Vorgesetzten kaum noch die Entscheidungen bekommen, die sie brauchen. Und wenn sie doch einmal welche bekommen, dann passen die von Regelchef und Projektleiterin mangels Abstimmung nicht zueinander. Doppelt (manchmal auch dreifach) gemanagten Mitarbeitern bleibt dann nichts anderes übrig, als die Dinge selbst zu in die Hand zu nehmen. Sie entscheiden auf eigene Faust, man will seine Kollegen schließlich nicht im Stich lassen, man selbst ist ja auch auf deren Hilfe angewiesen. Entschieden wird dabei (natürlich) mit dem Horizont, der einem aus Mitarbeitersicht zur Verfügung steht, einen anderen gibt es nicht. Ob das, was dann entschieden wird auch zu Entscheidungen außerhalb des eigenen Horizontes passt, ist mehr oder weniger Glücksache. Selbst wenn mit hoher Kompetenz und Verantwortung entschieden wird, passt das, was dabei herauskommt, kaum mehr zusammen. Obwohl also alle Beteiligten nach bestem Wissen und Gewissen handeln erzeugen sie gerade dadurch Chaos – die Organisation verblödet trotz aller Intelligenz ihrer Mitglieder.

Der Grund für das Chaos in vielen von hoher Dynamik überlasteten Unternehmen ist nicht Dummheit, sondern der aussichtslose Versuch, deren Strukturen (mangels Denkalternative) mithilfe bewährter Methoden für die veränderten Anforderungen dynamischer Märkte fit zu machen.

Die Lösung von gestern erzeugt die Probleme von heute.

Bis übernächste Woche!

 

 

 

 

 

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