Unterscheidung und Einheit
5. April 2024 - Ralf Hildebrandt
Werte Leserinnen, liebe Leser,
erfreulicherweise wächst die Leserschaft unseres Newsletters stetig – ganz ohne Präsenz auf TikTok und Insta (noch, man weiß ja nie). Und immer wieder einmal gibt es Fragen, weshalb Unterscheidungen im Umgang mit den komplexen Problemen moderner Unternehmen eigentlich so wichtig sind. Die Antwort ist einfach:
Unterscheidungen reduzieren Komplexität auf ein erträgliches Maß.
Weil die Welt (auch die der Wirtschaft) unendlich komplex ist, kann sie in ihrer „ganzen“ Komplexität (weil unendlich) nicht beobachtet werden. Erst wenn Komplexität durch Unterscheidung (Ausblendung des allermeisten) reduziert ist, kann beobachtet werden. Zum Vergleich: Niemand würde versuchen, sich das World Wide Web auf die Festplatte seines Rechners zu ziehen. Wenn man das Internet nutzen will (oder die Komplexität eines modernen Unternehmens), blendet man das meiste mithilfe eines Browsers oder eines Chat-Bots aus, und schneidet sich zurecht, was man gerade braucht.
Je präziser ein Teil der Welt beobachtet werden muss, umso präziser müssen auch die zur Beobachtung benutzten Unterscheidungen sein. Wie präzise genau, bestimmt das jeweilige Problem mit dem man sich beschäftigt (oder beschäftigen muss). Wenn Sie beispielsweise Ihr oder irgendein anderes Unternehmen bei der Lösung von Dynamikproblemen unterstützen wollen (hier steckt die Unterscheidung, dass Sie als Beobachter nicht zur Organisation, sondern zur Umgebung einer Organisation gehören), dann benötigen Sie heute Unterscheidungen, auf die man im vergangenen Jahrhundert noch verzichten konnte – zumindest zur Organisation eines konkurrenzfähigen Unternehmens. Eine sauber geplante Aufbau- und Ablauforganisation (auf Basis der Unterscheidung von oben und unten) war damals das A und O, heute blendet man damit Entscheidendes aus – zum Beispiel von Dynamik erzwungene, sich selbst organisierende Dynamikinseln.
Weil unser Institutsleiter Dr. Gerhard Wohland schon vor einem halben Jahrhundert geahnt hatte, dass sich mit den üblichen Unterscheidungen der damals (unter ansteigender Dynamik) einsetzende Wandel von Unternehmen nicht mehr verstehen lässt, und er fürs Verständnis keine geeigneten Unterscheidungen fand, sah er sich als Unternehmensberater gezwungen, selbst welche zu entwickeln. Einem promovierten Quantenphysiker ist Komplexität nicht fremd, bald war die durch die damalige Globalisierung erzeugte ökomische Enge als Ursache von Dynamik ausgemacht – im Schnelldurchlauf: Unternehmen können ihren Konkurrenten in globalisierten Märkten nicht mehr ausweichen, sie sind gezwungen, sich in ihren Aktivitäten unablässig gegenseitig zu stören (zu überraschen), was Komplexität erzeugt und Komplexität wiederum erzeugt Dynamik (Überraschungen).
Um die Entwicklung und Funktion moderner Unternehmen zu beschreiben, hatte Dr. Wohland dann vor über 30 Jahren schließlich die Unterscheidung von kompliziert und komplex als Leitunterscheidung „offiziell“ vorgeschlagen und auch benutzt. 2001 dann die Erstauflage seines Buches, der Titel lautete damals noch „Denkwerkzeuge für dynamische Märkte“. Farben gab es damals erst einmal nicht, die hielten erst mit der dritten Auflage 2011 Einzug. „Rot und Blau“ war der zusammenfassende Titel der Unterscheidungen, die sich aus der Unterscheidung von komplex (lebendig) und kompliziert (tot) ergaben. Hier die dazu passende Abbildung:
Heute ist Rot/Blau in vielen Unternehmen in Gebrauch, wird aber oft missverstanden und mit Unterscheidungen für Dinge verwechselt, die nichts miteinander zu tun haben, wie zum Beispiel „Zucker“ und „Salz“. So ist Rot/Blau aber nicht gemeint.
Rot/Blau unterscheidet, um eine Einheit zu beschreiben,
die nur durch eine Unterscheidung beschrieben werden kann. Die meisten von Wohlands Denkwerkzeugen sind so gebaut. Probleme zum Beispiel sind die Einheit der Unterscheidung komplexer und komplizierter Bestandteile, und ein Mensch kann als Einheit der Unterscheidung von Verstand und Gefühl beschrieben werden. Was wiederum dabei hilft, rot/blaue Probleme zu bearbeiten, weil der Verstand zwar wissen, aber keine Ideen für den Umgang mit Komplexem haben kann, denn die stecken im Gefühl, im Können. Kurzum:
Weder Menschen noch ihr Tun können rot oder blau sein. Sie sind immer rot und blau.
Jeder Arbeitsvorgang im Unternehmen ist immer ein Zusammenwirken von roten und blauen Anteilen. Das gilt auch für die kreativsten Arbeiten. Auch Leonardo (rot) musste für die Mona Lisa Pinsel, Farbe und Leinwand (blau) benutzen. Und selbst für die stupideste Fließbandarbeit ist „Dienst nach Vorschrift“ eine Streikform. Rote und blaue Arbeitsanteile setzen einander gleichzeitig voraus. Sie lassen sich nicht trennen wie Zucker und Salz. Oder anders:
Rot/Blau ist eine Unterscheidung, die zur Beschreibung des Zusammenhangs des Unterschiedenen benötigt wird – also zum Denken.
Als Bezeichnung von realen Dingen (oder gar Individuen) verliert sie ihren Sinn. Was sich ändern kann, ist das Verhältnis von Rot und Blau. Bei kreativen Arbeiten wird der rote Anteil höher bewertet als beim Kopieren eines Textes. Aber nie kann einer der beiden Anteile ganz verschwinden – zumindest nicht im Falle dynamikrobuster Wertschöpfung.
Bis übernächste Woche!
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