Es gibt keinen Mangel an Talent

8. April 2016 - Ralf Hildebrandt

 „Sie irren sich. Wir haben keine Ideen, unser Geschäft nach vorne zu bringen. Zumindest nicht substantiell. Da sind keine. Wir brauchen frisches Blut.“

Haben Sie, werte Leser das so oder in abgeschwächter Form auch schon einmal gehört? Tatsächlich ist es wahrscheinlicher , dass sich die gestandene Geschäftsführerin mit ihrer Aussage geirrt hat. Man könnte das Gesagte auch so übersetzen: wir haben kein Talent für neues Geschäft – bzw. keine Talente für neues Geschäft.

Keine Verurteilung – die Chefin ist nicht dumm. Sie ist intelligent. Nur hat sie nicht die (Lern)-Umgebung zur Verfügung, um zu erkennen, dass das Gegenteil der Fall ist. Sie ist nicht dort, wo die Ideen notwendigerweise jeden Tag entstehen – in der Peripherie. 

Es gibt keinen Mangel an Talent. Das ist ein Scheinproblem. Talente gibt es wie Sand am Meer. Jeder Mensch hat Talente – wahrscheinlich unendlich viele. Die meisten davon bleiben unentdeckt, denn Talente sind selten gleich offensichtlich (wie bei Ronaldo beim Freistoß – Fußball – wem das etwas sagt). Sichtbar werden sie, wenn eine Person sich von einem Problem angezogen oder positiv provoziert fühlt. Und ihr die Lösung leichter fällt, als den meisten anderen.

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Das ist die ungewohnte Definition eines Begriffs, der zum Klapperbegriff verkommen ist. Unter Talent wird üblicherweise eine für eine dezidierte Jobbeschreibung besonders geeignete Person verstanden. Mit einem beschreibbaren Skillprofil – beliebig aufgeladen mit Qualifikation. Das zieht einen Rattenschwanz von Scheinproblemen nach sich (s.o.).

Völlig andere Perspektiven entstehen, begreift man Talent als eine Eigenschaft des „Körpers“, des Gefühls, einer inneren Haltung. Im Unterschied zum Verstand. Beides ist natürlich untrennbar miteinander verbunden. Will man sich der Sache allerdings klar werden, hilft die gedankliche Trennung. Denn ob sich jemand zu einer Sache hingezogen fühlt, ist keine Sache des Verstandes. Hingezogen sein bedeutet übrigens nicht, dass das eine große Freude bedeuten muss. Oft ist das Gegenteil der Fall – man spürt eine Pflicht (ein aus der Mode gekommener Begriff – aber nützlich).

Eine passende Idee entsteht viel schneller, als dass man sie mit dem Verstand bewusst bemerken könnte. Manchmal wundert man sich in der Rückschau: „wie bin ich denn jetzt da drauf gekommen?“ Man spricht dann auch davon, dass es einem in den Fingern gejuckt hat. Oder man etwas angepackt hat – man den Braten gerochen hat. Alles Begriffe aus der Welt des Körpers. Und so ist man lange vor einer eingehenden Analyse der Situation (durch den Verstand) schon auf dem Weg und probiert sich aus. Natürlich kann man nach dem Tun mit dem Hirn beobachten und einordnen, was geschehen ist. Aber eben danach. Übrigens entsteht Innovation bei der heute üblichen hohen Dynamik genau so.

Wie Gefühle, so können auch Talente nicht vermessen werden. Man müsste das dazugehörige Problem, die Herausforderung, der man sich stellt, irgendwie mit in den Horizont nehmen. Und eigentlich die Resonanz zum Problem oder Projekt messen wollen. Mit dem findigen Projektleiter müsste das Projekt mit durch die Tür bei HR.

Wenn man einem Talent auf die Spur kommen will, macht es jedenfalls keinen Sinn, das dazugehörige menschliche Bewusstsein im leicht erregten Leerlaufzustand z.B. während der Durchführung eines Tests zu prüfen. Da entsteht sicher nichts Neues. Da werden allenfalls Aufgaben gelöst – keine Probleme. Denn die Antworten sind ja bekannt. Nur Bekanntes wird abgefragt. Es geht um Wissen. Das ist weniger spannend und fördert auch kein Talent zu Tage. Höchstens das Talent, Tests zu bestehen.

Aber was soll man in der betrieblichen Praxis schon damit schon anfangen können, dass man ein Assessment Center bestehen kann? Wird man deshalb ein besonders erfolgreicher Manager? Kaum. Assessment Center lösen andere Probleme.

Der Unterschied zwischen Wissen und Können
Was Unternehmen heute wirklich benötigen sind nicht Wisser, sondern Könner. Das notwendige Wissen kann angeeignet werden. Zur Not gegoogelt. Das ist zwar auch wichtig, aber ein gewohntes Problem. Die Lösung heißt Schulung. Wissen ist das, was erlernt, gemerkt, aufgeschrieben und weitergegeben werden kann. Wissen ist das, was dazu führt, Fragen beantworten zu können. Nur diese Fähigkeit ist an der Universität abprüfbar. Der Professor fragt „weißt du das?“ – nicht etwa „kannst du das?“ Er stellt eine Frage und der Student weiß die Antwort. Oder nicht. Darauf fußt ein Notensystem – nur dies ist messbar. Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Natürlich ist Wissen wichtig. Aber es entscheidet nicht mehr im Wesentlichen, wer im Wettbewerb vorne ist. Und es führt direkt in eine Havarie, wenn man einen Mangel an Können mit Wissen (Schulungen) kompensieren will. 

Haben Sie eines der vielen Bücher über Steve Jobs oder Richard Branson gelesen? Oder den Film über Mark Zuckerberg gesehen? Wenn ein Mensch im Angesicht einer Frage, die ihn interessiert – die in ihm brennt – alles stehen und liegen lässt, Streit mit der Familie riskiert und seine Nächte opfert, um etwas herauszufinden, dann geht es um Talent und Können. Dann entsteht Neues. Wenn man in einem Experiment wissen will, ob etwas geht oder nicht.

Dieses gefühlsmäßige Verbundensein mit dem „Problem“ macht den Unterschied. Das kann man nicht herstellen wollen – auch wenn es oft wünschenswert wäre. Man kann es nur an sich oder anderen bemerken, wenn man sich ´mal wieder etwas eingehandelt hat.

Im Können sind die Menschen ungleich. Können klebt am Könner. Im Gegensatz zum Wissen, welches man verhältnismäßig leicht weitergeben kann. Können braucht als Basis Talent und entwickelt sich durch Üben. Vertrieb, Projektarbeit (echte) und Führung – bitte nicht verwechseln mit Management – sind typische Bereiche in einem Unternehmen, in welchen nur Könner beeindruckende Leistungen erbringen „können“. 
Kompetenz ist die Beziehung von Wissen und Können. Beides ist im echten Leben untrennbar miteinander verbunden. 

Bis nächste Woche!

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Bildnachweis: istockphoto Lori Werhane; 44265932

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