Krass anders

19. November 2020 - Ralf Hildebrandt

Dass die Welt komplex ist, ist für Sie ein alter Hut, liebe Leserinnen, werte Leser. 

Komplex, im Sinne von überraschend. C19 ist so eine Überraschung – nach wie vor. Verstehen fällt (noch) schwer. In der Schule war (ist) verstehen anders. Man beschäftigt sich damit, Kompliziertes zu verstehen (nicht Komplexes). Wie man das macht, hat jeder rauf und runter jahrzehntelang gelernt. Im wahrsten Sinne des Wortes. Das ist die Sorte von Verstehen, bei der sich jeder sofort zuhause fühlt. Sicheres Terrain.

Verstehen unter Komplexität ist – um ein jugendliches Ausrufezeichen zu setzen – total krass anders als Schule.

Das liegt zunächst einmal daran, dass man die Komplexität der Welt, im Gegensatz zu Schulbüchern, nicht in den Kopf bekommen kann (voll krasse Erkenntnis). Es gelingt niemandem, mehr zu bearbeiten, als ins Hirn passt. Man trennt mit seiner Wahrnehmung ein Stückchen Welt heraus (wie mit dem Browser aus dem Web) und konstruiert sich eine Beschreibung, mit der man etwas anfangen kann.

Natürlich ist das ganz unterschiedlich, was man sich da – je nach IQ und Talent – zurechtbasteln kann, bevor man an seine Grenzen kommt. Einige können mehr abtrennen als andere. Die individuell typische Einheit „mein Stückchen Welt“ entscheidet darüber, wie groß das Problem sein darf, mit dem man sich beschäftigt. Wenn das Stück zu groß wird, kommt der Verstand ins Torkeln. Das Hirn kann keine Systematik mehr durchhalten, Problem und Lösung können nicht mehr zugeordnet werden und man „versteht die Welt nicht mehr“.

Für manchen liegt die Rettung im Populismus. Das ist der Grund, warum Scharfmacher 2020 besonders großen Zulauf haben. Wenn man keine Lust hat, sich zum Beispiel mithilfe von Wissenschaft Schritt für Schritt ums Verstehen zu bemühen (und Texte zu lesen), richtet man sich lieber nach jemandem, der behauptet, er wisse, wie die Welt funktioniert. Wenn das gut klingt, was der vom Stapel lässt, gibt man sich damit zufrieden. Fühlt sich gut an – man hört einfach auf seinen Bauch. Für den Stammtisch (die Chat-Gruppe) reicht das allemal und man hat das gute Gefühl, wieder zu wissen, wie der Laden läuft. Keine Angst mehr, man zieht sich ganz auf sein Gefühl zurück. Und der, der mir dieses Gefühl vermittelt, durchzublicken und wieder zu wissen, was richtig und was falsch ist, den himmele ich an, dem jubele ich zu.*

Bis übernächste Woche!

 

 

* Den wähle ich. Wenn Ihnen das heute (ausnahmsweise) zu politisch geworden ist – bitte um Nachsicht. Die Unterscheidung kompliziert / komplex erleben Sie schon bald wieder in gewohnter Umgebung. Zum Beispiel, wenn Sie mit Argumenten und Kollegen diskutieren, um Licht ins Dunkel eines überraschend komplexen Kundenproblems zu bringen. Und sich um Erkenntnis bemühen, weil „fühlt sich so einfach besser an“, für den Kunden keine Hilfe ist.

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