Schwächlinge

28. April 2023 - Ralf Hildebrandt

Liebe Leserinnen und Leser,

haben Sie heute einmal Lust auf ein heißes Eisen?

Gut, denn heute geht’s ums Lügen. (Fast) jeder verlangt von sich, nicht zu lügen. Natürlich, was soll man als integres Element der Gesellschaft auch sonst von sich verlangen. Aufrichtigkeit ist ein hoher Wert, aufrichtige (aufrechte) Menschen verbiegen sich nicht. Sie sind ehrlich zu sich selbst und stehen für ihre Überzeugungen ein. Und doch lügen aufrichtige Menschen (die das von sich verlangen) bei der nächstbesten Gelegenheit, dass die Schwarte kracht – aller Aufrichtigkeit zum Trotz.

Wie beispielsweise der junge Abteilungsleiter, der seiner – von ihm sehr geschätzten – Hauptabteilungsleiterin im monatlichen Gremiumsmeeting verschweigt, dass seine Leute die letzten Wochen an etwas ganz anderem herumgewerkelt haben als an dem, was seine Chefin gerade als Richtschnur ausgegeben hatte. Sie meint, gerade jetzt, in angespannter Marktlage, käme es ganz besonders darauf an, dass alle an einem Strang zögen und bittet jeden in der Runde um sein volles „Commitment“.

Der junge Abteilungsleiter, ein Anhänger von Bushidō (nicht der Gangsta-Rapper aus Tempelhof, sondern der japanische Verhaltenskodex, erste Tugend: Aufrichtigkeit), fühlt sich wie das sündige Elend. Was soll er nun seinen Leuten sagen, die so viel Energie in die neue Kundenlösung gesteckt haben? Die kann er doch nicht enttäuschen. Sollen sie einfach heimlich daran weiterarbeiten und er seine Chefin dann vor vollendete Tatsachen stellen? Und ihr hier im Meeting gleichzeitig volles Committment zusichern? Was soll er jetzt machen? Er verlangt von sich, aufrichtig zu sein, weil er weiß, dass Werte wichtig sind (die richtigen) – das hat er im High-Potential-Leadership-Workshop gelernt. Und wer im Leben erfolgreich sein will, der steht auch dazu. Und jetzt macht er gleich am Anfang seiner Karriere die Erfahrung, dass er genau das nicht hinbekommt – Schwächling!

Was ihm in seiner Situation vielleicht helfen könnte, ist die Erkenntnis, dass ein Unternehmen (wie jedes kommunikative System) nur einen ganz kleinen Teil dessen, was in einem Bewusstsein vor sich geht, in seine Kommunikation einbringen kann. Wenn man in einem Meeting alles „ehrlich“ sagen würde (also nicht lügen), flögen einem die meisten Meetings um die Ohren – zumindest die, in denen es um etwas geht. Gerade weil man also nicht ehrlich ist (und man nicht alles sagen kann, was einem gerade im Kopf herumgeht), kann Kommunikation überhaupt stattfinden.

Aufrichtigkeit (im Sinne von rechtmäßigem Verhalten) von sich zu verlangen, ist deshalb nicht falsch. Moral hält die Gesellschaft zusammen. Man muss aber eben auch wissen, wo die (selbst auferlegte) Forderung nach Aufrichtigkeit eher schadet als nützt. Wenn man das nicht weiß, fühlt man sich schuldig und schwach. Und jemand, der sich (zu Unrecht!) schuldig fühlt, ist in seinem Denken immer eingeschränkt. Oder anders:

Man wird nicht klüger, wenn man sich (und andere) beschuldigt,

weil Moral zwar wichtig, aber kein Erkenntnismittel ist.

Wenn man die Denkfigur einmal hinter sich lassen kann, beinahe alles, was nicht funktioniert, auf die Schwächen von (unaufrichtigen) Menschen zurückzurechnen, kann man die Menschen aus dieser Verantwortung entlassen und sich selbst auch. Dann ist man frei. Und kann sich überlegen: was mache ich denn jetzt?

 

Bis übernächste Woche!

 

 

 

 

 

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