Skaliert das?

23. August 2017 - Ralf Hildebrandt

Werte Leserinnen und Leser, 

wenn Sie in dynamischer Umgebung bereits die eine oder andere (Change)-Management Aktivität aktiv oder passiv erleben durften, ist in Ihnen wohl schon der Verdacht gereift, dass sich dadurch eigentlich nicht viel geändert hat.

Wenn sich Pulverdampf (wenige Tage) und Aufregung (2-3 Wochen) gelegt haben, sortieren sich die Dinge wieder. Die alten Silos schütteln sich einmal wie ein nasser Hund und die Change-Flöhe fallen von ihnen ab. Vielleicht ist das ab und an auch ganz gut so. Sonst hätte sich das Unternehmen durch den Gestaltungsdrang eines Management-Heißsporns (das sind immer nur die anderen) schon aufgelöst. Ein Sozialsystem springt nicht gleich über ein Stöckchen.

Nun könnte es aber auch so kommen, dass Ihre Abteilung (Business Unit, Firma) einen Tick zu lange von der Substanz der fetten Jahre gelebt hat. Die jungen Wilden um Sie herum sind inzwischen irgendwie flexibler, frischer, innovativer. Ihre Zahlen sind noch gut. Aber vielleicht ahnen Sie schon, dass die beiden Geschäftsmodelle in Ihrer Pipeline auch nicht die Rettung bringen. Totes Pferd?

Noch nicht. Denn Sie lieben Ihre Firma, Ihr Geschäft, die Leute um sie herum. Lieben? Ein wenig zu dick aufgetragen? Ok, Sie mögen sie ganz gerne, können sich damit arrangieren, anderswo ist das Gras auch nicht grüner…. jedenfalls liegt Ihnen mittelfristig etwas daran, dass es weitergeht.

Was machen Sie als emanzipierte Führungskraft* jetzt? 

Nehmen wir an, Sie haben Zeit, sich selbst etwas zu überlegen. Sie können das noch. Und Sie haben auch keine Angst davor, dass Ihnen eine Weile nichts einfallen könnte. Ihre erste Überlegung ist dann vielleicht, dass klassische Organisationsentwicklung (Orgcharts malen, Anweisung erteilen, Mitarbeiter abholen, belohnen bzw. bestrafen) aufgrund hoher Dynamik nicht infrage kommt. Sie schrauben also nicht an der Vorderbühne herum. Sie wissen, es hätte keinen Sinn, Ihren Leuten ein bestimmtes Verhalten (= Vorderbühne) aufzuoktroyieren. Sie benötigen keine Schauspieler. Sie benötigen vielmehr eine Resonanz zwischen den vielfältigen Talenten Ihrer Leute und den Problemen der Kundschaft. Und Sie haben schon mehr als einmal erfahren, dass es auf die Haltung (= Hinterbühne der Kultur) ankommt. Es ist für Sie kein großes Ding mehr, dass Ihre Gedanken ganz selbstverständlich um die Frage „WER passt wo hin?“ kreisen. Ihren Reflex „WIE löse ich das?“ haben sie hintangestellt. Sie kümmern sich also „nur“ noch darum, die Probleme in geeigneter Weise zur Verfügung zu stellen. Und zu beobachten, was dann wird. Zuversicht keimt in Ihnen auf. Mut. Das werden Sie hinbekommen.

Denn Ihnen ist auch klar, dass das Neue (= neue Strukturen außerhalb der Silos) in Teilen hier und dort schon funktioniert. Allerdings läuft das nebenher – im Halbdunkel zwischen Bühne und Backstage-Bereich. Und diese halbgaren Dinge einfach so ans Licht zu holen? Keine so gute Idee. Im Rampenlicht würden sie verheizt. Sie nehmen das Ganze also unter Ihre Fittiche, um das hemdsärmelige Experimentieren auf ein solideres Fundament zu stellen. Sie setzen es in ein für alle einsehbares Labor. Sie testen damit das Neue unter ernsthaften Bedingungen – am Markt – und siehe da… Sie haben Erfolg! Es funktioniert (ist schließlich nicht immer so). Die Kunden wollen das neue Dingsbums und zahlen dafür sogar mehr, als es Sie kostet. Champagner!

Ihre erste Sektlaune ist noch nicht ganz verflogen, da kommt Ihre Chefin um die Ecke. Bzw. Ihr Aktionär in Vertretung eines Analysten, falls Sie selbst die Chefin (der Chef) sind. Natürlich ist Ihr „agiles“ Experiment nicht geheim geblieben – das sollte es ja auch nicht. Nachdem Ihnen ausführliches Schulterklopfen zuteil wurde, kommt die Frage, die immer kommt: „Wie skalieren wir das?“ 

Ganz so direkt kommt das natürlich nicht daher – vielleicht ist es verkleidet: Best Practice, Business Excellence? Stöhnen Sie Ihre Chefin dann nicht gleich an. Sie kann Ihre Experimente nicht verstehen. Hinter der Anfrage steckt der sehr verstehbare Wunsch nach planbarer Erfolgswiederholung (ein Prozess), um die verhassten Silos endlich loszuwerden. Nie mehr das Gerede von „Zuständigkeiten“ hören müssen. Es wäre eine Erlösung, Ihre neue, leistungsfähige Struktur über alle Abteilungen hinweg „auszurollen“. Mit Klein-Klein kommt man heute nirgendwo hin. Die Zeit drängt.

So. Jetzt haben Sie den Salat. Kaum hat etwas funktioniert wünscht man sich, es wäre schiefgegangen. 

Sie müssen nun findig sein – denn Ihre experimentelle, beobachtende (= sehr moderne) Form von Organisationsentwicklung kann man nicht skalieren. Die Frage der Skalierung ist bei Komplexität eine falsche Frage. Was sich in einer bestimmten, kontextgebundenen Situation konkret ergeben hat, passt anderswo sicher nicht in derselben Form. Schon allein, weil es dort andere Leute mit anderen Talenten gibt. Allerdings – wenn das Labor mit Neugierde beäugt wurde und andere sich von den Vorteilen der agilen Herangehensweise selbst überzeugen konnten (weil Sie es wollten), beginnen die Silos löchrig zu werden. Ohne schweißtreibende Kleinarbeit und Schauspielerei. Genau Hinschauen lohnt sich. 

Wenn Sie jemand fragt, wie man aus einer kleinen, erfolgreichen Initiative eine große Bewegung machen kann, verweisen sie also vorsichtig auf die Denkfalle. Man käme im Gesellschaftssystem (das „Über“-Sozialsystem, wenn man so will) auch nicht auf die Frage, eine Modebewegung zu skalieren. Etwa, wenn man entdeckt hat, dass schlabbrige Fellstiefel im Sommer auf einmal cool sind (2015/16). Und man das nun replizieren will, weil man zu viele Gummistiefel produziert hat. 

Heißt dass, das moderne Organisationsentwicklung ein Kind des Zufalls ist? Mal springt sie an, mal nicht? Ja und nein. Ob sich im Spiegel bestimmter Herausforderungen eine kreative Stimmung oder angstvolles Stirnrunzeln ergibt, kann man nur feststellen. Und dann das Beste daraus machen. Es gibt immer das Risiko des Scheiterns**. Es ist aber auch so, dass sich ein erfolgreiches Labor so schnell wie ein Gerücht verbreiten kann und die alten Strukturen lösen sich in Wohlgefallen auf. 

Sicher ist nur, dass es zur experimentellen Organisationsentwicklung (bei Komplexität!) KEINE Alternative gibt. Man kann höchstens ein Theater aufführen. Wenn man sich nicht traut, das Risiko zu schultern. Oder jemand anderes durch Schall und Rauch beeindruckt werden soll. Das kann auch ein Grund sein. Vielleicht, um Zeit zu gewinnen. 

Die schnellste Form von Organisationsänderung ist, wenn sie sich selbst ändert. Man kann ihr nicht die Hammelbeine lang ziehen (vgl. Beitrag Rosenzüchter) Es kann rasend schnell gehen oder man kann einen grandiosen Flop landen. Irgendwo dazwischen liegt dann Ihre Wahrheit. Ein kluger Manager nutzt seine Organisation selbst deshalb als Werkzeug (mit viel Gefüüühl) und greift nicht in den tayloristischen Werkzeugkasten. Was eine große Versuchung ist. Denn der steht immer direkt neben ihm – weit offen.  

Die Entwicklung Ihres Unternehmens hin zu Konkurrenzkraft ist vergleichbar mit der Erstbesteigung eines Berges. Wer könnte Ihnen absichern, dass kein Wetterumschwung naht, wenn Sie mitten in der Klamm hängen? Das wird niemand übernehmen. Sie werden sich darauf vorbereiten, damit Sie alles dabeihaben, was man im Falle eines Falles braucht. Ob es dann glatt läuft, werden Sie schon sehen. Und Sie werden sich von den Verhältnissen belehren lassen und daran wachsen. 

Ihnen ist schließlich noch immer etwas eingefallen. Nicht wahr!

Bis übernächste Woche!

* Davon ist auszugehen, wenn Sie diesen Blog lesen (Danke sehr!)
** Scheitern ist zwar als Notwendigkeit für Innovation bekannt. Für Ihre Karriere aber höchstens dienlich, wenn Sie es so lange verschweigen, bis sich endlich ein Erfolg eingestellt hat. 

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