Lernt hier eigentlich noch jemand ´was?

1. April 2016 - Ralf Hildebrandt

Wenn ein Unternehmen heute aufhört zu lernen, lebt es nicht mehr lange. Konzerne halten das länger durch. Aber ein kleiner Mittelständler sicher nicht. Schulungen zwecks Wissensvermittlung sind hier nicht mit „Lernen“ gemeint. Sondern zum Beispiel das Lernen bei der Entwicklung neuer Geschäftsmodelle. Die entstehen ja nicht (mehr) am grünen Tisch, sondern experimentell. 

Lernen – das liest sich fast ein wenig langweilig. Es lohnt sich aber, einen zweiten Blick zu riskieren. Allein schon, weil Wissen Verstehen voraussetzt. Und weil die Periode, bis aus einem gefühlsmäßig richtigen Handeln ein Verstehen wird, sehr lang sein kann. Zu lang für das Tempo der Wirtschaft heute. Der Wettbewerber ist ja nur noch um die Ecke. 

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Haben Sie schon einmal Angler beobachtet? Wenn die sich beraten? Und der eine den anderen fragt, wieso nimmst du diesen Köder und nicht den anderen hier? Das ist nicht Wissen, sondern in Worte gefasstes Gefühl. Und das meiste davon ist einfach Unsinn. Aber trotzdem hört der, der keine dicken Fische fängt dem zu, der sie schon im Netz hat. In der Hoffnung, dass er da etwas lernen kann. Auch wenn es meistens nicht viel bringt. Irgendwann finden sie dann mehr oder weniger zufällig etwas heraus, was die Fische besser beißen lässt. Aber es dauert eben. Den Anglern macht das nichts, solange nicht direkt daneben jemand einen Fisch nach dem anderen aus dem Trüben zieht. 

Früher war die Komplexität dessen, was ein Unternehmen zur Kenntnis nehmen musste, um zu überleben, gering. Ein Managerbewusstsein konnte das abbilden. Ein Manager (oder eine Gruppe) konnte damit umgehen. Wenn man nur lange genug gebrütet hatte, kam ein schlagkräftiger Plan – gerne auch Strategie genannt – dabei heraus. Der wurde dann umgesetzt und man war wieder vorn.

Heute ist die Komplexität aber so groß, dass ein einzelnes Bewusstsein das nicht mehr leisten kann. Warum? Ist da jemand zu doof – hat da jemand nichts „dazugelernt“?

Wenn das Bewusstsein eines Menschen lernen möchte, dann geht das nur bei ähnlicher Komplexität. Das Bewusstsein hat eine gewisse Komplexität und die Lernumgebung, in der gelernt werden muss, hat auch eine Komplexität. Das kann man sich ja nicht aussuchen. Das Bewusstsein kann jedoch nur einen gewissen Grad an Komplexität zur Kenntnis nehmen. Das meiste muss es ignorieren, sonst kann es gar nichts lernen.

Intelligenz setzt Ignoranz voraus (das können Sie auch gerne anderweitig nutzen und ggf. mit einem Ausrufezeichen versehen). Wenn das Komplexitätsgefälle zu groß wird, dann staunt das Bewusstsein nur noch. Dann ist es aus mit Lernen. Es befiehlt dann „seinem“ Körper, den Mund offen zu stellen und die Augen aufzumachen. Und dann steht man mit offenem Mund da und staunt. Aber man versteht nichts. Kennen Sie das? Wann haben sie das letzte Mal eine Vorstellung eines Magier besucht? Deshalb muss das Bewusstsein dafür sorgen, dass das, was als Lernumgebung sichtbar ist, so in seiner Komplexität reduziert wird, dass es damit umgehen kann. Will man verstehen, muss man also einen Großteil der Komplexität ausblenden. Das macht sie natürlich nicht kleiner. 

Wenn man der gestiegenen Komplexität nun nicht einmal mehr einen Superhelden des Managements (inkl. 60-Stunden-Woche) lösend entgegensetzen kann, was dann? Es wird einem nichts anderes übrig bleiben, als der äußeren Komplexität die Komplexität der eigenen Organisation entgegenzusetzen. Denn wenn ein Unternehmen auch bei hoher Dynamik weiterhin besteht, muss es eine ähnliche innere Komplexität entwickelt haben. Oft ist das nicht der ganze Laden – aber es gibt immer Bereiche, wo das so ist. Der Manager würde dann seine eigene Organisation quasi als schnüffelnden Jagdhund nutzen, der neues Geschäft aufspürt – um im Beispiel von oben zu bleiben. Die Komplexität des eigenen Unternehmens ist die Voraussetzung dafür, dass ein einzelner Manager in der neuen Wirtschaft überhaupt lernen kann. Wenn sie oder er das eigene Unternehmen defizitär denkt, behindert das die Entwicklung massiv.

Etwas populärer: die eigene Rübe reicht nicht mehr aus – das ganze Zeugs kann niemand mehr in den eigenen Horizont nehmen wollen. Das ist aber nur ein Grund zur Traurigkeit, wenn man nicht weiß, dass das Unternehmen bereits die notwendigen Strukturen ausgebildet hat – auf der Hinterbühne. Da wirken die unsichtbaren Werte der Mitarbeiter, die das Handeln auch dann möglich machen, wenn es eine Überraschung gibt und keine Regeln oder kein Prozess mehr greifen kann. Die Hinterbühne reagiert auf diese ungeheure äußere Komplexität und versucht, damit fertig zu werden. Man kann den Kunden nicht hängenlassen, auch wenn es schon Freitag 18:30 Uhr ist. Das ist so ein Wert, der die Klamotten zusammenhält. Obwohl man eigentlich auch Dienst nach Vorschrift machen könnte. Darüber wird aber gar nicht geredet. Versteht ja sowieso keiner. Oder wenn auf der Vorderbühne ein Prozess entwickelt wird, der nichts taugt. Und die Hinterbühne dafür sorgt, dass mit diesem Prozess, obwohl er voller Fehler ist, trotzdem produziert werden kann. Solche Beispiele gibt es viele.

Das Unternehmen ist also in der Lage, klüger zu handeln, als es reden kann. Oder wie es Prof. Dr. Baecker mit Bezug auf die Denkwerkzeuge sinngemäß einmal bezeichnet hat: „… es gelingt durch die Denkwerkzeuge auf beeindruckende Art und Weise den Blick für Praxis zu schärfen, wenn man seinem Kopf und seinem Mund die Zeit gönnen muss zu verstehen, was Hand und Fuß schon lange wissen.“

Das Unternehmen soll also klüger sein, als es reden kann? Es ist so. Was aus dem Gefühl heraus entstanden ist, hat keinen Namen. Keine Bezeichnung. Man hört dann von „dem Projekt bei Kunde Müller – weißt Du noch, machen wir das jetzt doch wieder so.“ Und wenn ein Service besonders flexibel und ideenreich statt nach Arbeitskarte 08/15 erbracht wird, setzt sich sicher kein Arbeiter danach hin. Weil er davon – sich selbst bewundernd – Notiz genommen hat: „Oh – eine operative Innovation. Dazu verfasse ich einen Report an Controlling und Business Development, um das strukturiert und planbar zur Serienreife zu bringen.“

Das macht es verzwickt. Der Mangel, nicht darüber reden zu können, wird nicht sichtbar. Vielleicht geht das nur mit Unterstützung von außen. Denn wenn man einen Manager fragt, wie sein Unternehmen, sein Bereich, funktioniert, käme der nie auf die Idee, dass er das gar nicht wissen könnte. Natürlich weiß er das. Er erzählt das auch. Und dass das, was er da erzählt, mit dem nichts zu tun hat, was tatsächlich vorgeht, das ist auch wiederum normal. Weil er das ja aus seiner Zentrumsposition heraus gar nicht sehen kann. Das nennen wir Meta-Unwissenheit. Man weiß nicht, dass man etwas nicht weiß und deswegen ist man gar nicht aufgeregt. Manchmal wird man zwar müde und erinnert sich daran, dass die alten Matratzen, auf denen man sich ausgeruht hat, zwar voller Ungeziefer sind. Aber man kann trotzdem gut darauf schlafen.

Es gibt also noch viel zu Lernen. 

Bis nächste Woche!

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Bildnachweis: istockphoto Cylonphoto; 79980207

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